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Die Geburt



Auf der Schiefertafel in unserer Küche, auf der wir die Zeit herunter gezählt hatten, steht noch immer: 9 Tage. Jeden Morgen hatten wir die alte Zahl weggewischt, durch die neue ersetzt und uns gefreut, gerade war sie noch dreistellig. Die 9 durch eine 8 zu ersetzen, dazu waren wir an diesem Morgen nicht mehr gekommen. Ich hatte Bauchschmerzen. Wie fühlen sie sich an, hatte er gefragt. Ich weiß nicht, hatte ich geantwortet. Wie Wehen, hatte er gefragt. Ich weiß nicht, wie sich Wehen anfühlen, hatte ich gesagt. Wir beschlossen, es noch nicht für Wehen zu halten, noch nicht für richtige Wehen jedenfalls, bloß kein falscher Alarm.
Dabei hatten wir beide von ihr geträumt. Am Tag davor hatte ich die Kette reparieren lassen, die er mir bei unserem letzten Hamburg-Ausflug geschenkt hatte – drei silberne Herzen an einer Kette, zwei für uns und ein großes für das Baby – der Mann im Juweliergeschäft hatte sich bereit erklärt, den kaputten Verschluss noch am gleichen Tag zu löten, falls es losginge. Ich habe auch noch Bilder gemacht, im Passfotoautomaten auf dem Rückweg, Fotos von meinem schwangeren Bauch, der jetzt schon 39 Wochen hinter sich und noch 9 Tage vor sich hatte. Und ich hatte mexikanisch gegessen wie ganz zu Beginn der Schwangerschaft, als ich ihn drei Wochen lang jeden Abend zum Mexikaner geschickt hatte um Guacamole zu holen. Wieso habe ich plötzlich wieder Heißhunger auf mexikanisch, fragte ich ihn, glaubst du, sie kommt jetzt?
Ich weiß nicht, sagte ich, wahrscheinlich nicht. Dabei hatte ich am Vortag im Büro ungefähr sieben Mal gesagt, dass es jetzt jeden Tag losgehen könnte. Als ich an diesem Morgen, an dem sie Bauchschmerzen hatte, von denen wir beschlossen hatten, dass es noch keine richtigen Wehen waren, dann ins Büro wollte, sagte sie: Bleib doch besser hier. Falls es doch nicht bloß Probewehen sind. Und ich schrieb eine Mail, dass es jetzt wahrscheinlich losgehe, jedenfalls könnte es sein. Dann rief ich Juliane an, die Hebamme, eine Virtuosin der Gelassenheit. Wie oft, fragte sie. Alle fünf Minuten, sagte ich. In einer halben Stunde bin ich bei euch, sagte sie. Als sie da war, kamen die Wehen, die wir irgendwann an diesem Morgen für richtige Wehen zu halten begonnen hatten, schon alle vier Minuten. Wir fuhren los, sie auf dem Rücksitz, alle vier Minuten stöhnte es von hinten, und Juliane sagte, sie im Rückspiegel beobachtend: atmen, atmen!



Es war ein regnerischer, stürmischer Tag, der nie ganz hell geworden war, die Autos zogen eine Gischt hinter sich her, die Klinik war am anderen Ende der Stadt. Du wirst ein Sturmkind, sagte ich zu meinem Bauch. Nach einer Stunde Fahrt waren wir da. Ich kam ins Vorwehenzimmer. Der Muttermund war vier Zentimeter geöffnet, es brauchte zehn. Der Wehenschreiber schrieb Wehen, wie ein Uhrwerk, sagte die Hebamme, die Tagschicht hatte. Wir zündeten eine Kerze an, ich lag da, wir sprachen mit Fanny, die Fanny hieß, seit wir wussten, dass es ein Mädchen wird, es war gemütlich, nur alle drei Minuten nicht, aber wir konnten noch sprechen. Hinterher will ich einen Hawaiiburger, sagte ich, mit ordentlich Wedges, er lachte, denkst du sogar jetzt ans Essen. Ein paar Mal ging er raus, um eine zu rauchen, wir schaffen das, flüsterte ich, Fanny, mein kleines Sturmkind, jetzt kommst du wirklich.
Wir sollten noch einmal spazierengehen. Es regnete. Alle paar Minuten kamen Wehen und wir blieben stehen. Wir gingen bis zum Wasser, obwohl man in der Dunkelheit eigentlich kaum etwas sehen konnte. Wir stellten uns die Aussicht vor und hielten einander fest. Wir machten noch ein paar Anrufe. Wie es ginge? Es ging voran. Wir übersiedelten in den Kreißsaal. Christine hatte übernommen, die Nachtschicht. Sie saß jetzt in der Badewanne. Die Schmerzen waren so stark geworden, dass sie sie kaum noch ertragen konnte. Das Kind hatte sich falsch bewegt, es lag jetzt so, dass die Schmerzen immer unerträglicher wurden, den Kopf nicht nach vorne zwischen die Schultern gezogen, sondern nach hinten oben in den Nacken gelegt, Sternengucker nennt man solche Babies. Christine beschloss, dass es Zeit für eine PDA sei.
Wie lange waren wir schon hier? Acht, zehn Stunden, ich weiß es nicht mehr genau. Die Zeit verging, ohne dass ich es bemerkte, nur die Schmerzen waren der Puls der Zeit. Atmen, immer weiter atmen, nicht aufhören zu atmen, atmen, nicht schreien. Ich versuchte es im Stehen. Ich versuchte es auf allen Vieren. Ich versuchte, mich an die Heizung im Bad zu lehnen. Ich legte mich wieder ins Bett und auf die Seite und krallte meine Hand noch fester in seine. Wie ich ihn dafür liebte, dass er einfach schwieg und meine Hand nie losließ.
Man kann nichts tun. Man kann nur daneben sitzen und mitatmen und Beschwörungen flüstern, die so leise sind, dass niemand sie hören kann. Bei der PDA ging ich raus, als ich wieder reinkam, waren Schläuche in ihr, zehn, fünfzehn Minuten, dann sollte es erträglicher sein. Ich guckte auf den Monitor, der die Stärke der Wehen und den Herzschlag des Kindes anzeigte. Dann fiel der Herzschlag, von einer Sekunde auf die andere. Christine telefonierte, eine Minute später standen sie zu dritt um das Bett, die Anästhesistin zog eine Spritze auf, vorsichtshalber. Lass alles gut sein, flüsterte ich, bitte bitte lass alles gut sein.
Das kommt manchmal vor, sagte Christine, das Baby spürt die PDA und beruhigt sich dann wieder. Jetzt ging es endlich besser. Ich konnte mich ausruhen zwischen den Wehen, wir konnten wieder miteinander reden, der Muttermund ging weiter auf. Alles normal. Bis die PDA aufhörte zu wirken. Die Schmerzen waren wieder da, stärker als zuvor, und gingen nicht mehr weg, und wurden immer schlimmer, obwohl die Anästhesitin nachdosierte, oder wie immer man es nennt, was Anästhesistinnen tun. Jetzt wird es kalt am Rücken, sagte sie, nicht erschrecken, es wurde kalt, aber nicht besser. Warum ihre Substanzen nicht wirkten, konnte niemand sagen. Kommt wohl manchmal vor. Wie alles eben manchmal vorkommt. Aber musste es gerade jetzt vorkommen?



Sie schrie. Und fluchte. Und schrie. Und fluchte. In den Pausen zwischen den Schreien, die zu kurz waren, als dass sie sich noch hätte erholen können, war Christine gut zu ihr. Legte ihr die Hände auf den Rücken, machte ihr Mut. Du schaffst das, doch wirklich, du machst das ganz toll. Ich sah ihr ins Gesicht und ihren Schmerzen zu und hasste die Schmerzen. Ja klar, ich war an ihrer Seite, ich liebte sie, aber in diesen Stunden fand ich das arg mickrig. Dann beschlossen Christine und die Ärztin, die Sache zu beschleunigen, auf die altmodische manuelle Weise. Die Ärztin kletterte auf sie und drückte mit beiden Händen von oben auf ihren Bauch.
Bei der nächsten Wehe halt die Luft an und press mit aller Kraft, sagte Christine. Ich versuchte, die Luft anzuhalten, konnte aber nur schreien, beim nächsten Mal, sagte Christine, du kannst das, los gehts, Luft anhalten und pressen, gut so, sagte sie, ja genau. Wie oft noch, brüllte ich. Fünf Mal, sagte sie. Dann passierte etwas merkwürdiges. Obwohl ich keine Kraft mehr hatte, obwohl ich noch dachte: Ich stehe jetzt auf und gehe nach Hause, obwohl ich die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte, wusste ich plötzlich, dass ich es schaffe. Ich sagte: Ich schaffe das jetzt. Und schloss die Augen und presste bis mir schwindelig wurde. Schau runter, rief Christine, da ist das Köpfchen. Ich sah ihren Kopf und konnte es trotzdem nicht glauben. Neinnein, sagte ich, dochdoch, sagte Christine. Dann hörte ich mich selbst schreien, so laut und schrill, dass ich darüber selbst erschrak. Da ist sie, sagte Christine. Schau doch nur. Er durchtrennte die Nabelschnur, obwohl er davor solche Angst gehabt hatte, solche Angst, ihr weh zu tun. Sie wickelten sie in eine Decke und legten sie auf meinen Bauch. Da bist du endlich, dachte ich. Fanny, sagte ich. Fännchen, flüsterte er. Dann weinte ich und lachte und sah ihn und seine Tränen und konnte es endlich glauben.