SLOMO

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FANNY












Liebe Fanny,
heute bist Du ein Jahr und zwei Monate alt. Kaum zu glauben, was seit meinem letzten Brief an Dich alles passiert ist: Du läufst. Und wie Du läufst. Vom Wohnzimmer in die Küche in den Flur ins Schlafzimmer und wieder zurück, zwischendurch machst Du Beute, schnappst dir einen Löffel, ein Kissen, ein T-Shirt, und läufst weiterweiterweiter. Du hast vorne kurze und hinten lange Haare. Du räumst jetzt gerne Schubladen aus, alle T-Shirts, alle Schuhe, alle Kochtöpfe. Du räumst mein Portemonnaie aus und bist stinksauer, wenn ich Dir die Münzen und Scheine wegnehme. Vor ein paar Tagen habe ich Dir ein eigenes Portemonnaie geschenkt mit alten Kreditkarten und Spielgeld. Haben willst Du aber nur das Original, keine Chance. Letzte Woche bist Du zum ersten Mal die Treppen hochgeklettert. Seitdem willst Du nur noch Treppen hochklettern, bis zum Dachboden, wieder runter und wieder rauf. Du fütterst Deinen Esel und die Elmo-Handpuppe. Du hast schon wieder zwanzig neue Kosenamen, Fannoschka und kleiner Vogel, weil Du nach dem Aufwachen immer aussiehst, als wärst Du gerade erst geschlüpft. Du machst Quatsch. Guckst mich ganz ernst an und steckst mir dann blitzschnell Deinen Finger ins Nasenloch. Setzt Dich hinter die Gardine, ziehst den Vorhang zu und dann auf und sagst: "Waaaaaah!". Ziehst mir die Socken aus und beißt in meinen großen Zeh. Hahaha. Du lachst so sehr, dass Dein kleiner Babykörper wackelt. Hab ich Babykörper gesagt? Du bist kein Baby mehr, Fanny, Du bist jetzt ein kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen mit einem riesengroßen Willen. Manchmal vermiss ich das winzige Bündel in meinem Arm, vor einem Jahr hast Du auf den Unterarm von Deinem Papa gepasst. Aber dann schau ich Dich an und kann nicht aufhören zu staunen. Wie toll Du bist. Wie lustig. Wie neugierig. Und vergluckst. Und dickköpfig. (Dein Papa sagt, das hast Du von mir, ich finde, Du kommst da ganz nach ihm, so oder so: es ist wunderbar).  Du bist unglaublich zärtlich. Seit einer Weile küsst Du (allerdings nie auf Bestellung). Auf der Straße winkst Du wildfremden Menschen und lachst bis sie zurücklachen, dann lachst Du noch mehr und legst den Kopf schief. Du hast zwei Backenzähne, Zehn-Zahn-Kind.

Manchmal bin ich so müde, dass ich mir zwei freie Tage wünsche, zwei Tage zum Durchschlafen. Geh ich dann wirklich mal eine Stunde schlafen, vermisse ich Dich schon, wenn ich die Tür hinter mir schließe. So ist das mit Dir, Fanny, Du raubst mir den Schlaf und manchmal auch die Nerven und ich kann nicht genug bekommen davon. Gestern Abend hast Du Dir ein Buch geholt, Du bist zu mir aufs Sofa geklettert, hast Deinen Kopf auf meinen Bauch gelegt, meinen Arm genommen und um Dich geschlungen. Dann hast Du gelesen. Seite für Seite, hast das Buch weggelegt, mir über den Kopf gestreichelt und "Ei" gesagt. Dann hast Du weitergespielt. Könnte man solche Momente nur aufbewahren, sie zusammenfalten und in die Hosentasche stecken, für später, für immer. Ich würde ihn Dir zeigen, in zwanzig, nein, in dreißig Jahren, wenn Du fast so alt bist wie ich jetzt, wenn Du einen schlechten Tag hast, oder einen guten, schau nur, Fanny, würde ich sagen, das bist Du mit einem Jahr und zwei Monaten. Ich hätte es ja auch nicht gedacht, aber man kann tatsächlich immer noch mehr lieben, und noch mehr, jeden Tag.

Deine Mama