SLOMO

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ANDERTHALB


Liebe Fanny,

einen schöneren Tag hättest Du Dir nicht aussuchen können, um anderthalb zu werden. Du hast lange geschlafen, bis halbzehn, kaum zu glauben. Um Mitternacht, pünktlich zu Deinem Geburtstag, ist Dein Papa von seiner Reise nach Hause gekommen und hat sich zu Dir gelegt. Du hast die Augen aufgeschlagen und "Baba" gesagt, oder eher "BAABAA", dann hast Du Dich in seinen Arm gelegt und so gut geschlafen wie lange nicht mehr. (Dein Papa, auch wenn ich Dir das nicht verraten soll, konnte seinen Arm heute morgen kaum noch bewegen, seinen Fannyarm, wie er ihn nennt, Du hättest ihm gar keine größere Freude machen können!). Danach haben wir ungefähr zwei Stunden gefrühstückt. Auch so etwas, das ich unfassbar an Dir liebe, Fännchen: Du bist eine Genießerin. Du kannst Dir Zeit lassen, Dich reinfallen lassen in Dinge, die Dir gefallen, Essen zum Beispiel. Du isst für Dein Leben gerne. Und es gibt nichts, was Du nicht magst, nichts, was Du nicht probierst. Du liebst saure Gurken, Birne, Butter, Risotto, selbstgemachte Pizza (vor allem den Teil, wo Du den Teig plattklopfen und die Tomatensoße verteilen darfst), Avocado, Laugenbrötchen. Und: Du liebst es, Musik zu hören und zu tanzen. Ich habe noch nie einen Menschen so tanzen gesehen wie Dich, Fanny. Es ist, als würde die Musik in Dich einfahren, als wärst Du selbst ein Ton, ein Lied, so wunderschön, so ausgelassen, so unglaublich frei. (Wann fängt man bloß an, sich beim Tanzen darüber Gedanken zu machen, wie man dabei aussieht? Bitte Fanny, tanz immer so weiter, Dein ganzes Leben lang!). Manchmal nimmst Du Dir ein Buch und eine Flasche Wasser, legst Dich in Deine Kuschelecke auf Dein Fell und liest. Du kannst aber auch sehr aufgeregt sein. Heute warst Du sehr aufgeregt, als Du zum ersten Mal die Tafelwand in der Küche bemalen durftest. Da, hast Du gesagt, immer wieder, da, da DAAA. Dann hat Dein Papa Deinen Umriss auf die Tafel gemalt und verziert, mal warst Du ein Teufel, dann ein Engel, dann ein Hase, ein hungriger Cowboy, ein Geburtstagskind und eine Königin. Den Cowboy mochtest Du am liebsten. Der Cowboy hat Dich so entzückt, dass Du ihn Bert, der Handpuppe, und Deinem Bären gezeigt hast, ich musste sie genau dorthin halten, wo Du gestanden hattest. Als ich das erste Mal auf die Uhr gesehen habe, war es halbsieben. So ein Tag war das, Fanny. Dann wolltest Du Abendessen, Du hast die Schublade in der Küche aufgemacht, das Risotto rausgeholt und mir gegeben, dann hast Du auf die Milchflasche gezeigt und "Mi" gesagt, zum ersten Mal. Gestern hast Du zum ersten Mal Gurke gesagt, Gua. Und obwohl es langsam immer mehr Wörter werden, muss ich mich wirklich zusammenreißen, nicht jedes einzelne Mal loszuheulen vor Rührung. Wo kommen die Worte plötzlich her? Wo kommt das alles plötzlich her? Du willst nicht mehr getragen werden, Du willst die drei Etagen zu uns hoch alleine klettern. Du willst nicht mehr im Kinderwagen sitzen, Du willst gehen und dabei nicht an der Hand gehalten werden. Du willst Dir alleine die Zähne putzen. Du willst die Tür aufschließen und bist sehr sauer, wenn ich Dir dabei helfen will. Du willst die Einkaufstüten tragen, egal, ob sie größer und schwerer sind als Du. Du holst morgens nach dem Frühstück die Jacke und den Fahrradhelm, damit wir in den Kindergarten fahren. Du nimmst meine Hand und führst mich zu dem, was Du willst, Widerspruch zwecklos, Du nimmst meine Hand und machst sie zu Deiner Hand, lässt Dir geben, was zu hoch liegt, aufdrehen, was zu fest verschlossen ist, hervorholen, was wir vor Dir versteckt haben. (Du durchschaust alle Tricks, man kann Dir nichts mehr verheimlichen).

Es ist so wunderbar, Dir beim Fannysein zuzusehen, Fanny. Du bist ein so schöner Mensch, so fröhlich, so entschieden, so neugierig, so aufmerksam, so zärtlich, so wild, so zart, so bockig, so heile. Eben beim Einschlafen, hast Du Deinen Finger an meine Lippen gelegt und gesummt, Du wolltest, dass ich für Dich singe, also habe ich "Twinkle, twinkle" gesummt und Du hast ein bisschen mitgesummt. Dann hast Du Dich in mich reingedreht, meinen Arm genommen und um Dich gelegt und Deine Hand in meinen Ärmel geschoben. Wie ich es liebe, wenn Du ärmelst, Fanny, Du liebst es auch und bist sofort eingeschlafen. Ich wollte Dir noch diesen Brief schreiben, und konnte einfach nicht aufstehen, Deine Hand in meinem Ärmel, Dein kleiner Atem an meinem Ohr, ein, aus, ein, aus, ein, aus. Jetzt ist es schon nach Mitternacht, und ich schreibe Dir, und hoffe, dass Du weißt, wie sehr ich Dich liebe, und dass Du schöne Abenteuer träumst, kleines großes Fännchen.

Deine Mama