19 MONATE
Liebe Fanny,
ich sitze im Café um die Ecke, in dem ich fast jeden Mittwochnachmittag sitze, wenn der Babysitter auf dich aufpasst, eigentlich wollte ich arbeiten, aber ich schreibe Dir lieber. Es ist so viel passiert in den letzten Tagen, das ich gerne aufheben möchte, Fännchen. Im Moment kommt mir jeder Tag wie ein kleines Leben vor. Hier sind ein paar Polaroids aus den letzten Tagen.
Du sitzt im deinem Hochstuhl. Du schreist. Du willst die Ketchupflasche. Als du sie bekommst, schmeißt du sie auf die Erde. Jetzt willst du Pizza. Die Pizza, die auf meinem Teller liegt, nicht deine Pizza. Als ich dir ein Stück von meiner Pizza gebe, wirfst du sie gleich hinterher. Du schreist. Du willst auf den Arm. Ich nehme dich auf den Arm. Du willst runter. Du wirfst dich auf die Erde und weinst. Ich will dich trösten, aber ich darf dich nicht trösten, du willst nicht angefasst werden. Ich weiß, wie sehr du dich manchmal quälst, wenn du einen Zahn bekommst, so habe ich dich allerdings noch nie erlebt. Du schläfst kaum, drei Tage und drei Nächte lang, du weinst und wimmerst und weinst, dann bist du so erschöpft, dass du auf dem Arm von deinem Papa beim Frühstück einschläfst. Ich bin auch ganz furchtbar müde. Ich bin so müde, dass ich mit deinem Vater eine Stunde lang darüber streite, dass er nie die Spülmaschine ausräumt. Ich weiß nicht, wie ich dich trösten kann. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll, ich würde dir so gerne die verdammten Zahnschmerzen abnehmen und das Fieber, ich würde so gerne vorspulen, Fanny, es wird ja immer besser, es hört immer wieder auf, nur hilft das jetzt gerade leider gar nicht, ich kann nur zusehen und dich halten, wenn du es willst.
Ich hole dich vom Kindergarten ab. Weil so schönes Wetter ist, habt ihr den Tag auf dem Spielplatz verbracht. Du siehst noch nicht, dass ich komme und sitzt zwischen den großen Kindern und isst ein Brötchen. Du hast einen Sonnenhut auf und keine Hose an, bloß ein T-Shirt und eine Windel. Du isst dein Brötchen und sagst etwas zu G., das ich nicht verstehe, dann lachst du. Als du mich siehst, rennst du los und rufst Mama, mit dieser hohen Fannystimme, Mama.
Wir liegen im Bett, du willst nicht einschlafen. Ich habe dir zwei Mal "Die Raupe Nimmersatt" vorgelesen und drei Mal "Piep Piep Piep", fast kannst du es schon auswendig, du sagst Sssssss, wenn die Schlange kommt, und Nein, wenn ich die Seite mit der Steckdose aufschlage, und Kuckuck auf der Seite mit dem Kuckuck, deiner Lieblingsseite. Du bist hellwach. Also mache ich das Licht noch dunkler und sage Gute Nacht, Fanny und gebe dir einen Kuss. Dann lege ich mich hin und decke mich zu und schnarche ein bisschen. Du legst dich auch hin und deckst dich zu und schnarchst, du sagst pffffffff. Dann lachst du so laut, dass ich mitlachen muss, obwohl ich versuche, nicht zu lachen. Wir liegen im Dunkeln und lachen, ein hohes und ein nicht ganz so hohes Lachen. Dann nimmst du deine Hand und streichelst meine Backe, du sagst Mama ei, Mama ei, Mama. Und schläfst ein. Mitten im Satz. Die Hand noch auf meiner Backe.
Es ist unglaublich, Fanny, wie völlig selbstverständlich all diese Gefühle nebeneinander existieren. Das Glück, die Müdigkeit, das Glucksen, das sich auf die Erde werfen und schreien. Noch unglaublicher ist, was für ein anderes Kind du nach jedem Kranksein bist. Eine Woche und vier neue Zähne später sprichst du plötzlich ohne Pause, du sprichst, als wären die Worte schon immer da gewesen, sagst Huppalala und Papa, Arm und Mama, nein und Pizza. Pizza ist glaube ich mein Lieblingswort, Pizza wie du es aussprichst, Pietzhaa. Nur saure Gurken liebst du noch mehr. Manchmal verlangst du beim Abendessen nach sauren Gurken, du zeigst so energisch auf den Kühlschrank, bis einer von uns beiden dich auf den Arm nimmt und die Kühlschranktür öffnet, dann zeigst du auf die Gurken und sagst DAS!. Du isst eine Gurke, du sagst Mmmmh, dann sagst du mehr, ich hole noch eine Gurke, du isst sie und sagst daahke.
Stell dir jetzt vor, wie ich seufze und dir einen Kuss auf deine gurkengefüllte Speckbacke gebe, Fanny, Fännchen, mein liebster Mensch.
Deine Mama