SLOMO

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21 MONATE



Liebe Fanny,

ich weiß nicht, wie alt Du bist, wenn Du diesen Brief liest. Vielleicht gebe ich ihn Dir, zusammen mit all den anderen Briefen, an Deinem 18. Geburtstag. Vielleicht gebe ich sie Dir auch, wenn Du von Zuhause ausziehst. (Ausziehst? Ich mag gar nicht daran denken, auch wenn das vermutlich noch 16, 17 Jahre dauert. Was ist das nur mit der ewigen Sentimentalität? Hab ich nicht neulich noch mit den Augen gerollt, als meine Mutter mich gefragt hat, ob ich kurz anrufen kann, wenn wir gut angekommen sind, eine SMS schreiben kann, nur, damit sie weiß, dass alles gut ist? Ach, Fanny, Du wirst noch oft die Augen rollen über Deine Mama). Jetzt sitzt Du vielleicht da und trinkst einen Kaffee oder ein Bier und fragst Dich, wie es war, dieses kleine Mädchen von 21 Monaten.

Unglaublich schön ist es, mein Fännchen. Und ich meine nicht mal Deine blauen Augen und diesen unfassbaren kleinen Mund, der aussieht, als hätte man ihn mit einem Pinsel gemalt und nicht Deinen großen, absolut hinreißenden Fannyfüße. Ganz egal, ob Du gute Laune hast oder schlechte, ob Du müde bist oder auf Deiner Matratze stehst und hüpfst und Deinen Fannytanz tanzt - da ist irgendetwas in Dir, das leuchtet. Wie soll ich es beschreiben? Da ist so gar nichts Taktisches in dem, was Du tust, Fanny, Du bist einfach nur Du, glücklich, aufgeregt, überdreht, hungrig, müde, total drüber - aber immer auf eine Art heile, die einem beim Zusehen fast weh tut. Ich weiß, dass das Leben schon irgendwann kommen wird mit all seinen Anstrengungen und Notwendigkeiten und Schmerzen, trotzdem glaube ich, nein, ich weiß, dass Du dieses Leuchten behalten wirst, es ist einfach in Dir. Man fühlt sich leichter in Deiner Gegenwart, ein bisschen heller und sehr ganz, Fanny. Oder: Anny, wie Du gerade immer sagst, das F hast Du noch nicht gefunden. Stark bist Du auch, sehr stark sogar. Du bestehst auf die Dinge, die Du willst ( Gurke! Rutschen! Bär!) und auf die Dinge, die Du nicht willst (nicht schlafen, nicht baden, nicht die Schuhe anziehen, nicht im Kinderwagen sitzen, neinneinNEIN, Anny RUNTER!). Du kannst, und das hast Du ganz sicher nicht von mir, sagenhaft gut rumlümmeln. Auf dem Sofa liegen, ein Buch lesen, mit Deinem Papa eine Folge "Trotro" gucken, ein Haus bauen, den ganzen Nachmittag lang. Und Du bist unheimlich zärtlich. Gestern, als Du nicht schlafen wolltest, hast Du mich ins Bett gebracht. Du hast Mama, Bett gesagt, ich musste meinen Kopf aufs Kopfkissen legen, dann hast Du mich zugedeckt und mir einen Kuss gegeben und noch einen, Du hast Dich neben mich gelegt und meinen Arm gestreichelt und psssssst gesagt. Du bist ein Herdentier, Du bist glücklich, wenn Du bei allem dabei bist, was wir machen - wenn Du beim Einkaufen im Einkaufswagen sitzt und unsere Einkäufe hinter Dich wirfst, wenn Du beim Obsthändler die Äpfel aussuchst, den Kuchenteig umrührst. Ein Quatschmacher bist Du auch. Manchmal wirfst Du Dich beim Hopsen auf dem Sofa nach hinten, lässt Dich fallen und sagst Au-au, dann lachst Du, viel tiefer, als man es von einem kleinen Mädchen erwarten würde, und springst auf, wenn wir kommen, um ganz doll zu pusten. Manchmal versteckst Du Dich im Schrank, Du machst die Tür zu und tust, als würdest Du schlafen, bis Du es nicht mehr aushältst und Anny, PIEP sagst, dann muss ich die Tür aufmachen und vor Überraschung ganz laut schreien und Du hörst erst wieder auf zu lachen, wenn Du Dich noch einmal verstecken willst und ich weggehen muss, um Dich noch einmal zu finden. (Wann hört es eigentlich auf mit dem Quatschmachen, Fanny, wann verlernt man es, einen so unbändigen Spaß zu haben? Wann hört man auf, in der Küche zu tanzen, und laut zu singen und sich in den großen Zeh zu beißen? Wie ich es liebe, mit Dir zu tanzen, meistens zu Marvin Gaye, Move On Up ist gerade Dein Lieblingslied, und wehe, ich mache nach der Hälfte schlapp).

Das schönste Andenken, das ich aus unserem Paris-Urlaub mit nach Hause nehme: die Erinnerung an unsere kleine Party. Wir hatten etwas zu feiern, deshalb sind wir essen gegangen. Du hast Deinen eigenen Stuhl bekommen, keinen Hochstuhl, sondern einen ganz normalen (und wie stolz Du warst, Mama Stuhl, Papa Stuhl, Anny Stuhl!), und einen eigenen Teller und eine eigene Ketchupflasche für Deine Pommes, die Kellnerin war ein bisschen verliebt in Dich. Zwischendurch sind wir die Straße rauf und wieder herunter gerannt, Du hast mich gejagt und ich Dich, und wir haben auf dem Automaten für die Leihfahrräder alle Tasten gedrückt und Piep gesagt, dann haben wir Orangina getrunken und Prost gesagt (vielleicht Dein liebstes Wort gerade), draußen war es schon lange dunkel und Du hellwach. Bevor Du in meinem Arm eingeschlafen bist, hast Du mir noch Deinen Tag erzählt, von Deinem Stuhl und Deinem Teller, von den Pommes und von Dingen, deren Bedeutung nur Du kennst. Als Du eingeschlafen bist, habe ich noch eine ganze Weile im Dunkeln neben Dir gelegen, vorm Fenster Paris und die Nacht und Du neben mir, schlafend, leise schnarchend, schon so groß, dass Deine Füße im Liegen an meine Knie kommen.

Kannst Du es Dir vorstellen, das kleine, große Mädchen von 21 Monaten? Stoß auf dieses Mädchen an, Fanny, und sag Prost. Und dann ruf mich an, egal, wie spät es ist, und sag mir, dass alles gut ist. Oder tanz zu Marvin Gaye.

Es küsst Dich,
Deine Mama