VOM LESEN, NICHT LESEN UND ENDLICH WIEDER LESEN
Eigentlich lese ich nie nicht. Schon als Kind habe ich mich gerne in Geschichten verkrochen. Mich verloren und in Büchern wiedergefunden. Mich hinziehen, mitnehmen, mitreißen lassen. Über die Fernwärme gestaunt, die man bei manchen Büchern spürt. Mich über erste Seiten gefreut und letzte Seiten hinausgezögert. Mir gewünscht, manche Bücher noch einmal zum ersten Mal lesen zu können. Bücher wiedergelesen und beim zweiten und dritten Mal ganz anders gelesen (auch anders empfunden). Sätze unterstrichen, Absätze eingekringelt und Lieblingswörter eingekreist. Nicht fassen können, dass man so wahnsinnig gut, so über alle Maße brillant schreiben kann. (Und durchs Immer-wieder-Lesen herauszufinden versucht, wie das bitte geht). Auch nicht fassen können, wie es wildfremden Menschen gelang, für Gedanken und Momente Worte zu finden, die mir bislang gefehlt hatten. Wahnsinnig viel gelernt und über meinen Tellerrand hinaus gelesen. Gelacht und geheult, auch gegrollt und geflucht.
Und dann ist mir in den letzten Monaten das Lesen abhanden gekommen.
Was damit zu tun hat, dass hier in den letzten Monaten einfach wahnsinnig viel los war, viel Arbeit und sehr spät einschlafende Kinder. Und sicher auch mit meinem Hang, mich in Serien hineinzuglotzen, wenn das Leben zu laut ist (als würde es dadurch leiser werden). Aber das allein war es nicht. Ich hatte in meinem Kopf auch einfach keinen Platz für Geschichten, weil ich zu sehr mit meiner eigenen beschäftigt war. Mit Dingen, die ich sortieren und einordnen musste. Und dann kam dieses Buch. Letzten Samstag, als Fanny bei ihrer Freundin war und Hedi mit ihrem Papa auf dem Spielplatz, habe ich mich in die Badewanne gelegt und es ohne Unterbrechung durchgelesen. Dieses Buch, das er gefunden hatte, als er nach Büchern über London gesucht hatte, und das er mir hinlegte, weil er es so innig mochte: „84, Charing Cross Road” von Helene Hanff.
Eine Amerikanerin korrespondiert Ende der 1940er-Jahre mit einem Londoner Antiquariatsbuchhändler. Zuerst bestellt sie nur Bücher bei ihm, die sie bei sich zu Hause in New York nicht auftreiben kann, und ein wenig auch, weil in ihr eine Fernliebe zu London glüht. Doch mit der Zeit wird eine Freundschaft daraus. Bücher- und Londonliebe in einem einzigen Buch, das musste ich einfach lesen. Und war dann berührt und bezaubert wie lange nicht, auch weil ich für so altmodische Gefühle sonst leider kaum Gelegenheit finde.
Es lag an den Stimmen der beiden. Sie, Helene Hanff, ist eine kecke, immer wieder forsche Frau, jünger klingend, als sie ist (zu Beginn ihrer Korrespondenz ist sie 33). Sie will ihren Briefpartner aus der Reserve locken, also macht sie Witze, ihm nicht ganz ernst gemeinte Vorhaltungen, wenn er eine nicht wirklich schöne Ausgabe irgendeines vergriffenen Autors nach New York schickt, stupst und piekst ein wenig, und vor allem ist sie lebendig. Er, Frank Doel, ist dagegen ein wenig wortkarg und grummelig, ein Mann, so scheint es, der eher mit Büchern redet als mit Menschen, doch im Laufe der Jahre taut er auf. Sie schickt Schinken zu Weihnachten (im England der Nachkriegsjahre sind Lebensmittel noch rationiert). Er verteilt ihn unter seinen Kollegen, die dann auch Dankes-Postkarten schreiben. Auch seine Frau schickt ihr Briefe. Es ist zum Herzerweichen. Hanff ist, man merkt es jedem ihrer Briefe an, unsterblich verknallt in diese Stadt, die sie noch nie gesehen hat, sich nur aus Büchern vorstellt. Und sie verschlingt Bücher regelrecht. Er sucht Nachschub für sie, schickt ihr Exemplare, von denen er glaubt, dass sie ihr gefallen könnten, empfiehlt ihr bestimmte Ausgaben, legt sich ins Zeug. Und dann bekommt sie einen Brief von einem Kollegen aus der Buchhandlung, Frank sei gestorben, ein Blinddarmdurchbruch mit 60 Jahren.
1970, zwei Jahre nach Franks Tod, veröffentlicht Helene Hanff ihren Briefwechsel mit ihm. Das Buch wird ein Bestseller. Und sie hat endlich genug Geld, um London besuchen zu können, was sie die ganze Zeit über nicht geschafft hatte, all die Jahre. Darüber hat sie ein zweites Buch geschrieben: „Die Herzogin der Bloomsbury Street”. Das lese ich jetzt. Und es ist genauso zauberhaft wie ihr erstes, eine Liebesgeschichte zwischen ihr und der Stadt, der sie sich und die sich ihr in die Arme wirft.
Helene Hanff: „84, Charing Cross Road – Eine Freundschaft in Briefen”, 160 Seiten, 10 Euro, Atlantik.
Helene Hanff: „Die Herzogin der Bloomsbury Street”, 208 Seiten, 14,99 Euro, Atlantik.
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