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MEIN TV-TIPP FÜRS WOCHENENDE: „FREI UM JEDEN PREIS – ALBANIENS SCHWURJUNGFRAUEN” AUF ARTE

Eigentlich wollte ich diese (und letzte) Woche ganz viel hier schreiben. Dann sind wir alle krank geworden, einer nach dem anderen, und als ich halbwegs wieder stand, musste so viel Arbeit aufgeholt werden, dass keine Zeit für anderes blieb. Die Woche soll aber nicht zu Ende gehen, ohne dass ich euch eine Dokumentation empfehle, die mir sehr am Herzen liegt. Sehr am Herzen, weil eine der Regisseurinnen eine Freundin von mir ist und ich weiß, wieviel Zeit, Gedanken und Liebe in diesem Film stecken. Aber auch, weil mich „Frei um jeden Preis – Albaniens Schwurjungfrauen” (Samstag, 19:30 auf Arte, danach in der Mediathek) sehr berührt und lange beschäftigt hat. Die Dokumentation von Kristine Nrecaj und Birthe Templin erzählt von den sogenannten Burrneshas. Schwurjungfrauen, die beschließen, als Mann zu leben, um die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen zu können. Auch Bedrie Brahim Gosturani wurde vor 61 Jahren als Mädchen geboren und beschloss als Teenager, den Rest ihres Lebens lieber als Mann zu leben. Im Film trifft Bedrie auf die 26-jährige Adele, die in der Hauptstadt Tirana lebt und es schwer aushält, sich immer wieder dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie noch nicht verheiratet ist. Sie ist fasziniert von den Burrneshas. Und möchte von Bedrie erfahren, wieso sie sich für dieses Leben entschieden hat. Zwei Frauen aus ganz unterschiedlichen Welten, die doch so viel gemeinsam haben. Weil ich gerne mehr über all das erfahren wollte, habe ich den beiden Regisseurinnen ein paar Fragen gestellt…

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Erklärt mir doch bitte noch einmal, was genau eine Burrnesha ist.
Kristine:
Burr ist das albanische Wort für Mann und nesha die weibliche Endung. Wörtlich würde man Burrnesha mit Männin übersetzen. Es sind Frauen in Albanien, die beschlossen haben, die soziale Rolle des Mannes anzunehmen, wenn es keine männlichen Nachkommen in der Familie gibt.

Welche Freiheiten bietet das Leben als Mann, das sie als Frau nicht haben könnten?
Kristine:
Als Frau sollte man früher nicht in der Öffentlichkeit arbeiten. Noch heute ist es so, dass in der Gastronomie zum Beispiel nur junge Männer bedienen. Vor allem in ländlichen Gegenden ist das öffentliche Leben hauptsächlich von Männern dominiert. Frauen durften keine Waffen tragen, das war den Männern vorbehalten. Ein Haus zu verteidigen war daher schwer, wenn das Haus hauptsächlich aus Frauen bestand. Das war vor allem in den Gegenden wichtig, in denen Familien auf sich allein gestellt waren, also in den Bergregionen…
Birthe: Die Freiheit des Männerlebens beginnt im Alltäglichen und hört bei den großen Familienentscheidungen auf, wie zum Beispiel eine Nichte zu verheiraten. Wenn man im Norden unterwegs ist, sieht man keine oder nur sehr wenige Frauen auf der Straße. Sie bleiben im Haus, hüten die Kinder. In der Hauptstadt Tirana sieht das anders aus: Da wirkt es erstmal wie bei uns. Doch sobald die Frauen im heirats- und gebährfähigen Alter sind, greifen die alten patriarchalen Strukturen.

Seit wann gibt es diese Tradition und wieviele Burrneshas gibt es heute noch in Albanien?
Birthe:
Die Tradition der Burrneshas gibt es seit 600 Jahren. Aktuell gibt es schätzungsweise noch 15 bis 20 von ihnen. Die Schwurjungfrauen heute sind es meist aus anderen als der traditionellen Motivation geworden, die dem Überleben der Familie galt: um beispielsweise einer Zwangsheirat zu entfliehen, wenn sie transgender oder lesbisch sind oder ein Leben in Unterdrückung nicht ertragen konnten.

Auf die innere Entscheidung, als Mann leben zu wollen, scheint auch eine äußere zu folgen – Bedrie sieht aus wie ein Mann. Wie muss man sich das vorstellen?
Kristine:
Bedrie hat früh erkannt, dass das Leben als Frau in Albanien für sie wenig erstrebenswert ist. Wenn man als Frau heiratet, verlässt man die Familie und lebt bei der Familie des Mannes. Ein albanisches Sprichwort sagt: Als Frau wirst du in die fremde Familie geboren und heiratest in deine eigentliche Familie ein. Man kann sich nicht vorstellen, wieviel Schmerz und Leid ein solcher Satz hervorgebracht haben muss. Einer der Gründe, warum Bedrie niemals heiraten wollte. Sie hat angefangen, wie ein Mann zu denken, zu reden und sich so zu verhalten. Irgendwann wurde es ihr Charakter, und heute ist es ihr Schicksal. Das war auch, was Birthe und mich so fasziniert hat – dass unser Mindset so einen Einfluss auf unseren Körper haben kann, wie man bei Bedrie sehen kann. Ich möchte nochmal betonen, dass Schwurjungfrauen weder Hormone nehmen noch sich Operationen unterziehen. Diese Frage bekommen wir oft gestellt.
Birthe: Es ist wirklich erstaunlich, wie das Verinnerlichen der Rolle sich im Körper über die Jahre verankert. Bedrie sitzt beispielsweise immer breitbeinig. Oder sie hält die Zigarette, wie eine Frau sie nicht halten würde. Ihr Körper hat sich dem angepasst, was sie lebt.

Werden die Burrneshas ab dem Moment, in dem sie beschließen, als Mann zu leben, von den anderen Männern auch so behandelt und anerkannt?
Birthe:
Ja. Sie bekommen die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Mann und werden ebenbürtig behandelt.
Kristine: In der Tat gelten Burrneshas sogar als die besseren Männer, denn sie bringen einen klaren Verstand und Weisheit mit.

Wie habt ihr von den Burrneshas erfahren? Und was hat euch an diesem Thema so fasziniert, dass ihr einen Film darüber drehen wolltet?
Birthe:
Ich habe eine Foto-Ausstellung gesehen. Die Schwurjungfrauen fordern uns dazu heraus, unsere gewohnte Sicht und Denkweise zu verlassen. Meine Motivation einen Film zu machen, liegt für mich immer in nicht zu beantwortenden Fragen. Ich möchte mehr über die Welt und die Menschen herausfinden und vor allem verstehen. Die Schwurjungfrauen gehören dazu.
Kristine: Meine Großtante war eine Burrnesha. Abgesehen von der Tatsache, dass sie in der Öffentlichkeit rauchen und Raki trinken durfte, hatte sie etwas, das andere Frauen nicht hatten: Sie hatte eine Stimme. Und wenn sie sprach, verstummten alle. Mein Onkel im Kosovo sagte in meiner Kindheit zum Spaß Hey Burrnesh zu mir. Ich fühlte mich dadurch stark, auch wenn ich nicht wusste, was genau dieser Begriff bedeutete. Das „Burrneshatum” war immer Teil meiner Familiengeschichte. Ich schrieb vor einigen Jahren ein Spielfilmdrehbuch über eine Burrnesha. In der Zeit rief Birthe mich an, sie war sehr fasziniert. Wir beschlossen, uns gemeinsam auf den Weg zu machen, und unsere Filmreise hatte begonnen. Auf unserer Reise kam dann unsere Produzentin Katrin Springer dazu, die tief berührt war von den Geschichten dieser Frauen.

Wie lange habt ihr an diesem Film gearbeitet?
Kristine:
Den ersten Pitch hatten wir 2014 bei der Robert Bosch Stiftung für unseren Kinofilm. Es gab während der Reise viele Höhen und Tiefen, viele Absagen. Vor allem am Anfang. Abwechselnd war jeder von uns mal verzweifelt, aber richtig aufgeben wollte keiner. Wir machten weiter, bis endlich die ersten Förderzusagen kamen.
Birthe: Die Anfrage von Arte, eine kürzere Fassung mit veränderter Dramaturgie zu machen, kam während der Finanzierungsphase des Kinofilms. Das war Ende 2017. Wir haben dann zügig das Konzept entwickelt, hatten drei Drehblöcke zwischen Winter und Frühling, über den Sommer wurde geschnitten, Ende Herbst 2018 war der Film fertig. Das war schon sportlich und auch abenteuerlich und wunderbar. Wir sind über die Zeit echte Profis im Jonglieren von Kindern und Drehreisen und trotzdem die Laune halten geworden.

Wie seid ihr mit den Burrneshas ins Gespräch gekommen? Waren sie gleich bereit, von ihrem Leben zu erzählen?
Kristine:
Bei den Albanern gibt es eine Regel: Ein spontanes Treffen auf einen Kaffee geht immer. Wir hatten Bedrie kontaktiert und sie war mit einem Treffen einverstanden. Sie war aber sehr misstrauisch zu Anfang, denn sie hatte viele Enttäuschungen erlebt, vor allem mit Journalisten. Es dauerte eine Weile, bis wir ihr Vertrauen gewonnen hatten. Es gelang uns vor allem dadurch, dass wir uns wahrhaftig für sie interessierten und auf sie eingingen. Am Ende war sie sehr offen, wir hatten keine Scheu, kritische Fragen zu stellen. Sie war auch ganz deutlich, wenn sie Themen nicht öffentlich machen wollte. Das respektierten wir natürlich. Es war sehr rührend, wie sehr sich Bedrie um unsere Sicherheit sorgte. Sie mag den Film sehr und wir beziehen sie in die Auswertung mit ein. Als Filmemacher hat man eine gewisse Verantwortung seinen Protagonisten gegenüber. Ich glaube, der wurden wir gerecht.
Birthe: Für unser erstes Treffen hatten wir uns mit Bedrie in einer Kneipe verabredet. Die Location war wie aus einem Cowboyfilm, rauchende Männer lehnten über die Veranda, nur die Pferdeställe fehlten. Alle starrten uns an, ein kleiner Mann besonders misstrauisch. Ohne sich auszutauschen dachte jeder von uns: „Was ist das für ein Typ, der uns so anstarrt?”. Und in diesem Moment kam uns in den Sinn: Das muss Bedrie sein. Sie kam auf uns zu, streckte uns ihre Hand entgegen, höflich, aber mit prüfendem Blick. Und obwohl wir wussten, dass wir eine Frau treffen, die wie ein Mann aussieht, waren wir beeindruckt, wie wenig sie als Frau erkannt werden konnte.

Wie bewerten die Burrneshas rückblickend ihre Entscheidung, als Mann gelebt zu haben?
Kristine:
Die meisten Burrneshas sind mit ihrer Entscheidung zufrieden. Sie haben etwas bekommen, das für sie größer ist als persönliches Glück: Sinnhaftigkeit und das Gefühl der tiefen Befriedigung, dem Wohl der Familie gedient zu haben. Sie erhalten dafür Anerkennung und einen Status, den man als Frau nicht bekommt. Aber es gibt auch Stimmen des Bedauerns. Das Bedauern darüber, keine eigenen Kinder bekommen zu haben.

Gab es auch Burrneshas, die ihre Entscheidung bereut oder rückgängig gemacht haben?
Kristine:
Wir haben recherchiert, dass es Burrneshas gab, die es sich anders überlegt haben, doch geheiratet und eine Familie gegründet haben. Aber das waren Ausnahmen.
Birthe: Es gibt eine Burrnesha, die nach dem Tod ihrer Eltern in die USA gegangen ist. Aber auch dort lebt sie weiterhin als Mann. Sie findet es traurig, keine Kinder bekommen zu haben und würde jüngeren Frauen von diesem Schritt abraten. Aber ihr Leben bereut sie nicht und ein Rückgängigmachen steht für sie außer Frage.

Wäre das denn überhaupt möglich?
Kristine:
Sozial gesehen ist es ein tiefer Fall und kann den Ausschluss aus der Familie und der Gesellschaft bedeuten.

Wieso stirbt diese alte albanische Tradition aus?
Kristine:
Albanien ist sehr interessiert daran, Mitglied der EU zu werden. Ein Großteil der albanischen Bevölkerung lebt in der Diaspora und sie bringen das, was sie in den westlichen Ländern erfahren, in ihre Heimat. Durch das Internet können selbst in den abgelegensten Dörfern neue Lebensformen ins Wohnzimmer flimmern.

Können Frauen heutzutage als Single-Frau tun, was sie möchten? Adele scheint es als unverheiratete Frau mit 26 Jahren nicht gerade einfach zu haben. Jeder fragt sie, wann sie endlich heiraten wird – ganz so, als wäre sie ohne einen Mann nicht komplett…
Birthe:
Heute gehen die jungen Frauen, die nicht heiraten möchten, oftmals ins Ausland. Adele plant, nach Kanada zu ihrer Tante auszuwandern. Solange sich das strenge Patriarchat nicht verändert und die Mütter ihre Söhne entsprechend erziehen, werden Frauen um ihre Unabhängigkeit kämpfen müssen. Man darf nicht unterschätzen, wie die Menschen psychologisch in den alten Strukturen und Mustern gefangen sind.
Kristine: Wobei die Aussage, dass man ohne Mann nicht komplett ist, auch in unserer westlich sozialisierten Welt vorhanden ist – vielleicht nicht so plakativ. Zudem ist es auch in unserer Gesellschaft so, dass sich Frauen, vor allem in beruflich hohen Positionen, oftmals wie Männer verhalten müssen bzw. doppelt so viel leisten, um respektiert zu werden.

Adele sagt einen Satz, den ich seither nicht vergessen habe: „Nicht ich muss mich ändern, sondern unsere Welt.” Ihr habt ihn sicher ganz bewusst ans Ende eures Filmes gestellt, oder?
Birthe:
Es freut mich, dass du ihn nicht vergessen hast – genau deshalb haben wir ihn ans Ende gesetzt. Es ist die Kernaussage unseres Filmes, von der wir uns wünschen, dass sie dem Zuschauer über den Film hinaus in den Köpfen bleibt.
Kristine: Dabei geht es nicht nur um die albanische Gesellschaft, sondern um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen überall auf der Welt. Die Missstände scheinen in Albanien offensichtlich zu sein, sind in vermeintlich fortschrittlichen Gesellschaften jedoch verborgen und daher gefährlicher, weil man sie nicht sofort entlarvt.

Was habt ihr aus der Arbeit an diesem Film mitgenommen?
Birthe:
In Freiheit und Unabhängigkeit zu leben ist ein hohes Gut. Und Menschen auf der ganzen Welt suchen sich Wege, dies ihrer Vorstellung nach leben zu können, egal, was ihnen das gesellschaftliche System vorgibt. Mir erscheint der Wunsch nach einem freien Leben wie ein Impuls, den es schon sehr lange gibt. Und diesen Impuls zu beschneiden, egal, ob bei einem Mann oder einer Frau, macht überhaupt keinen Sinn.
Kristine: Für mich war die Arbeit an dem Film eine starke Auseinandersetzung mit meiner eigenen Identität als Frau mit albanischen Wurzeln, die in Deutschland aufgewachsen ist. Ich habe nochmal deutlich gemerkt, dass meine deutsche Sozialisation und mein albanisches Herz in Kombination unglaublich wertvoll sind und ich eine tiefe Dankbarkeit empfinde für meinen Vater, der trotz vieler Widrigkeiten ein sicheres Leben für uns in Deutschland aufgebaut hat, ohne dabei seine Heimat zu vergessen.

Liebe Kristine, liebe Birthe, danke für das Gespräch.

Kristine Nrecaj wurde in Neu-Ulm geboren und hat albanische Wurzeln. Nach dem Abitur studiert sie Theater- und Filmwissenschaften an der FU Berlin. 2003 arbeitet sie bei der Cine+ für Ciro Cappellari und Sebastian Ballhaus in der Stoffentwicklung. Im selben Jahr entstand der Dokumentarfilm „Kosovo”. 2010 absolvierte Kristine die Drehbuchschule von Wolfgang Pfeiffer. In diesem Rahmen entstand das Drehbuch für einen abendfüllenden Spielfilm „Zemra ime – Mein Herz”. 2014 lief ihr Kurzfilm „Von Hunden und Löwen” auf nationalen und internationalen Filmfetivals. Er erhielt den Preis für die beste Regie und die beste weibliche Hauptrolle beim Filmfestival im Kosovo. Zudem arbeitet Kristine als Creative Producerin im Bereich Imagefilm. 2019 führte sie Regie im Dokumentarfilm „Die Schwurjungfrau und das Mädchen”. Der Film entstand in Zusammenarbeit mit Arte/ZDF und der Filmkantine. Kristine hat sich durch die starke Verbundenheit zu ihrem Herkunftsland thematisch auf Albanien/Kosovo, Binationalität und Frauen spezialisiert.

Birthe Templin ist in Norddeutschland und Argentinien aufgewachsen. Nach dem Abitur zog sie nach England, um an der London Film Academy zu studieren. Es folgte ein EU-Stipendium an der Andrzej Wajda Master School of Film Directing in Warschau. Angefangen mit dem Kurzfilm „Lübbos Frau wartet” wechselte sie bald zum dokumentarischen Format. Ihre Filme wurden im Fernsehen wie auf vielen Filmfestivals weltweit gezeigt und sind preisgekrönt. Ihre Dokumentation „Was bleibt” wird an den bedeutendsten Internationalen Holocaust-Gedenkstätten sehr geschätzt und respektiert. Birthe Templin lebt mit ihren zwei Söhnen in Berlin und liebt das Meer.

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