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HEDI MIT ZWEIEINHALB: WORAN ICH MICH SPÄTER ERINNERN MÖCHTE

Wenn man Kinder bekommt, macht man schnell schräge Erfahrungen mit der Zeit. Einerseits zieht sie sich oft wie Sirupfäden, wenn man dabei zusieht, wie hundertmal dasselbe Klötzchen durch dasselbe Loch gestopft wird. Andererseits rast sie so schnell, dass man kaum dazu kommt, ihr hinterher zu trauern. 100 Mal am Tag muss man lachen, ist man glücklich, erstaunt, entzückt, euphorisch. Und will sich unbedingt alles merken. Man weiß ja, dass es nicht wiederkommen und sie schon in ein paar Jahren ein Schulkind sein wird. Und während man sich vornimmt, sich einfach alles zu merken, was sie gerade macht, hat man die Hälfte schon wieder vergessen. Natürlich gehört all das dazu. Das Beseufzen all der „Eben nochs” und Kleinigkeiten, die keine mehr sind (Winzfüße, dieser Babygeruch, sie mit mir herumzutragen, die Spaziergänge durch die Wohnung, damit sie endlich einschläft, immer die gleichen Trampelpfade entlang, wie mich das genervt hat, wie sehr ich das vermisse) und das Staunen über all das Neue, das immer wieder kommt. So anders, so spannend, so schön. Aber weil ich sentimental bin und mir so viel wie möglich aufheben möchte (beim zweiten Kind ist es ohnehin schon so viel weniger als beim ersten), sind hier ein paar Dinge, die ich nicht vergessen möchte, wenn ich mich daran erinnere, wie Hedi mit zweieinhalb Jahren war. 

* Wie sie immer, immer, immer rennt, als ob sie nicht auch gehen könnte (dass sie es kann, weiß ich, weil sie manchmal an meiner oder seiner Hand unterwegs ist, ganz gemächlich). Was für eine Vorfreude und Neugier man auf die Welt haben muss, wenn die einzige richtige Fortbewegungsart das Auf-sie-Zulaufen ist.

* Wie sie sich freuen kann. Und wie sie sich immer mit ihrem ganzen Körper freut, so, dass man es auch aus einem Kilometer Entfernung sehen würde. Hüpfende, klatschende, glückskieksende Ganzkörperfreude.

* Wie wir immer noch bescheuerte Kosenamen für sie finden. Raketchen, Bubu, Hedettchen. 

* Wie sie sich in ihrem Zweijährigen-Badeanzug und mit ihren Schwimmflügeln ohne eine Sekunde des Zögerns ins Schwimmbecken gleiten lässt und alleine schwimmen will (auf ihre Hedi Strampel-Art), nein, nicht halten, Hedi alleine, ihr Lachen dabei, und ihre Euphorie (als wäre sie im Wasser zu Hause). 

* Wie sie nach dem Aufwachen Papa und Mama sagt, in diesem nur für die ersten Worte nach dem Aufwachen reservierten Singsang.

* Mit welcher Fragezeichenlosigkeit sie Nein sagt. NEIN, NEIN, NEIN.

* Wie sehr sie mag, was sie mag. Die Raupe Nimmersatt, zum Beispiel. Diese kleine Badewannenfigur, die wir irgendwann mal zufällig in einem Laden gefunden haben. Tagelang trägt sie sie mit sich herum. Setzt sie zu den Pflanzen, die wir haben, damit sie Blätter essen kann. Nimmt sie mit in die Badewanne. Liest wieder und wieder dieses Buch, das wir schon alle auswendig können. Und lässt es uns abmalen für sie. Erst das Eis, dann die Gurke, den Kuchen, die Wurst, ein Stück Melone, den Lolli, das Früchtebrot. Und wieder von vorne. 

* Ihr Mitgefühl, wenn sich jemand weh getan hat. Und wie sie dann pustet.

* Wie ihr plötzlich erst Wörter und dann Sätze gewachsen sind, nachdem sie lange kaum geredet hat. Plötzlich sagt sie: Erdbeer und Vanille. Oder: Mami, ich brauche Hilfe. Oder: Mmhh, das ist lecker. Gefühlsbeschreibungen, Abendbrotbestellungen, kleine Unterhaltungen. Wie seltsam, aufregend, aber auch viel es sein muss, plötzlich sagen zu können, was in einem ist. 

* Wie sie ihre große Schwester Tatti nennt, mit einer Weichheit, die man kaum aushält, als wäre Tatti kein Name, sondern ein Gefühl, sie beide. Wie sie Tatti sagt, wenn Fanny von der Schule nach Hause kommt. Wie sie Tatti ruft, wenn sie verstecken spielen. Überhaupt: Tatti. 

* Was sie für eine Quatschgurke ist. Wie sie sich fallen lässt auf dem Sofa, wenn wir sie ganz vorsichtig mit dem Finger antippen und sich dann scheckig lacht. Wie sie mit ihrer kleinen Maus „Hoppe, hoppe, Reiter, PLUMPS” spielt und sich dann gar nicht einkriegen kann. 

* Wie sie sich hinter dem Vorhang versteckt, während ihre Füße unten rausgucken. Oder hinter einem Tischbein. Oder in meinem Schoß. Und wenn Fanny dann Wo ist die Hedi? fragt, mit hinreißender Ehrlichkeit Bei Mama! antwortet. 

* Wie zart sie einschläft, sobald die Müdigkeit stärker geworden ist als ihr Wille, auf gar keinen Fall einzuschlafen, weil das Wachsein so viel spannender ist als das Schlafen. Der Atem ganz ruhig, ihr Gesicht ganz glatt, ihr Körper ganz warm und schwer, immer schwerer, und wie er sich dann reindreht in einen von uns, als wären wir ihre Decke. 

* Ihre absolut undiplomatische Direktheit, ihre jeweiligen Vorlieben zu äußern. Nicht Mama, nur Papa. Papa weg, nur Mama. NEIN, Tatti, nicht. Eine halbe Minute später ist es dann wieder ganz anders, aber jetzt ist es so, und nur so, und ganz genau so. 

* Ihr entschiedener Klamottengeschmack. Der graue Pullover mit dem Feuervogel. Die rote Hose. Die orangene Strickjacke. Auch bei 20 Grad. Die Gummmistiefel, nur die Gummistiefel. 

* Die Dramatik ihrer Gesichtsausdrücke. Wenn sie sich freut, ekelt, wütend ist, traurig. Manchmal sieht sie aus wie eine kleine Stummfilmschauspielerin. 

* Wie sie urplötzlich dringend malen muss. Losrennt, um sich Fannys Tuschkasten zu mopsen, die Pinsel und den Wasserbecher zu holen, sich Wasser und Papier geben lässt und sich dann hinsetzt und malt.

* Wie sie alles urplötzlich machen muss: das Raupebuch lesen, Obstgarten und Arzt spielen, ein Eis bekommen, rennen, jetzt.

* Wie gerne sie ihren Körper mag. Wie sie nach dem Essen auf ihren Bauch klopft und Hedibauch sagt. Wie sie manchmal ihre Füße anschaut, als ob sie erstaunt wäre, sie am Ende ihres Körpers zu finden. Wie sie sich dreht, tanzt, klettert, schaukelt, rennt.

* Was sie für ein Feierbiest ist: Setzt sich, ehe sie in die Kita geht, noch schnell die Katzenmütze auf und schreit dann den ganzen Weg von ihrem Kindersitz allen Fußgängern sehr laut MIAU, MIAU entgegen. Zieht sich das alte Bärenkostüm ihrer Schwester an, setzt sich ihre Sonnenbrille auf, kommt angerannt, sagt Tanzen, Tanzen! Liegt morgens nach dem Aufwachen im Bett und sagt: Heute Party.

* Wie sie beim Obstgartenspielen schummelt und den Würfel so lange dreht, bis der Rabe oben liegt, weil der Rabe gewinnen soll, auch wenn das bedeutet, dass sie eigentlich verloren hat, aber das ist ihr sowas von egal. Wieder Rabe.

* Wie sie jedes Mal fünf Zentimeter wächst, wenn sie helfen kann – Einkäufe in den Einkaufswagen hinter sich zu schmeißen, mit dem viel zu großen Staubsauger zu saugen, die Blumen zu gießen.

* Wie sie nein sagt, wenn man sie fragt, ob sie einen Kuss haben möchte. Und einen dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet, vollküsst und gar nicht aufhört, noch einer, und dieser noch.