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„ICH KENNE DIESES GEFÜHL, UND WEISS, WIE BESCHISSEN ES IST”: PSYCHOLOGIN ELENA KÖSTLER ÜBER DIE ENTWICKLUNG EINER APP GEGEN EINSAMKEIT

Elena Köstler hat einen Plan. Zusammen mit ihrem Team in Amsterdam möchte die Psychologin eine App entwickeln, die gegen Einsamkeit hilft. Ein Gespräch über das Alleinsein in Zeiten sozialer Medien, Blicke, die man nicht mehr vergisst und die Schwierigkeit, einfach mal zusammen einen Kaffee zu trinken.  

Elena, du lebst in Amsterdam und arbeitest gerade an einer App namens SAM, die einsamen Menschen dabei helfen will, aus ihrer Einsamkeit herauszufinden. Bevor wir darüber sprechen, kannst du zunächst ein wenig von dir erzählen? 

Elena Köstler: Ich bin 26 und komme aus Bayern. Nach meinem Abitur habe ich zuerst vergeblich nach einem Studienplatz in Deutschland und Österreich gesucht und dann, nach Absolvierung eines Staatsexamens in Niederländisch, Psychologie in Amsterdam zu studieren begonnen. Mittlerweile lebe ich seit fünf Jahren hier. Im September 2017 habe ich meinen Master in Cognitive Neuroscience abgeschlossen und im November mit der Arbeit an SAM angefangen. 

Wie kann es sein, dass in einer Zeit, in der so viele Menschen miteinander vernetzt sind und es durch das Internet leichter als jemals zuvor ist, Menschen kennenzulernen, so unendlich viele Menschen einsam sind?

„Vernetztsein“ hat leider wenig damit zu tun, wie viele echte soziale Kontakte man hat. Auch mit 1.000 Freunden auf Facebook oder 400 Followern auf Instagram kann man niemandem zum Reden haben. Es scheint sogar so zu sein, dass soziale Medien das Gefühl von Einsamkeit verstärken, ihre häufige Benutzung das subjektive Wohlbefinden untergräbt und, einer anderen Studie zufolge, zum Gefühl gesellschaftlicher Isoliertheit beiträgt. Meiner Meinung nach tragen soziale Medien dazu bei, dass meine Generation immer weniger fähig ist, sich sozial angemessen zu verhalten. Zum Beispiel weil wir ständig aufs Telefon schauen und es akzeptiert wird, dass man sich mit einem Telefon in der Hand „asozial“ verhält. Vielleicht ist es ja auch dir schon passiert, dass du von einem Freund, mit dem du dich in einem Café verabredest hast, bloß die Rückseite seines Smartphones zu sehen bekommst. Ich habe aber nichts gegen das Internet. Es bietet uns viele Chancen, online neuen Leuten zu begegnen – die man dann offline kennenlernen kann.

Was sind Gründe für Einsamkeit?

Es hat viele Gründe, warum Menschen einsam werden und warum das mittlerweile so häufig vorkommt. Früher haben wir in Mehrgenerationenhäusern gelebt, zusammen mit Geschwistern, Eltern und Großeltern. Heute gehen wir nach der Schule oder nach dem Studium unsere eigenen Wege, ziehen in eine andere Stadt oder in ein anderes Land - und verlieren dadurch soziale Sicherheitsnetze, die uns auffangen könnten. Mehr als ein Drittel der deutschen Haushalte sind Singlehaushalte. Ein anderer Grund für das Wachsen der Einsamkeit: In der heutigen Gesellschaft ist es wichtig, unabhängig und eigenständig zu sein, aber das wird oft mit Unverbundensein verwechselt. Natürlich könnte ich auch sagen, dass Armut oder Krankheit Menschen einsam werden lässt, aber so einfach ist es nicht. Einsamkeit ist hochkomplex, da es sich bei ihr nur um ein Gefühl handelt – unabhängig von Herkunft, sozialem Hintergrund oder Status. Jeder kann sich einsam fühlen, schau dir mal die Dokumentation „Five Foot Two” über Lady Gaga an… 

Einsamkeit hat weniger damit zu tun, wie viele Menschen man kennenlernt oder in seiner Nähe hat, als mit der Qualität von Kontakten.
— Elena Köstler
SAM-Entwicklerin Elena Köstler

SAM-Entwicklerin Elena Köstler

 Von wievielen Menschen sprechen wir eigentlich? 

Europaweit sind 34 Millionen Menschen sozial isoliert. In den Niederlanden sind zwischen 500.000 und 3,5 Millionen Menschen einsam. Man streitet sich allerdings über die genauen Zahlen. Weil viele sich nicht zu sagen trauen, dass sie auch einsam sind, gibt es eine enorme Dunkelziffer. 

Wie sieht Einsamkeit heute aus?

Viele Menschen denken, dass vor allem alte und kranke Menschen einsam sind. Das stimmt so nicht. Wir alle können einsam sein. Wer einsam ist, hat auch kein psychisches Problem oder ist seltsam. Einsamkeit ist vor allem ein Gefühl – die subjektive Empfindung, zu wenige qualitative soziale Kontakte zu haben. Wer sich einsam fühlt, hat nicht so sehr den Wunsch nach mehr Kontakten, sondern wünscht sich bessere soziale Kontakte. Es ist sehr wichtig, Einsamkeit von sozialer Isolation zu unterscheiden. Wer sozial isoliert ist, hat keine sozialen Kontakte, sprich: keine Familie, Freunde oder Bekannte, die ihn emotional stützen. Anders als Einsamkeit ist soziale Isolation objektiv messbar. Darüber hinaus fühlen sich Menschen mit einem kleinen sozialen Netzwerk nicht per se einsam, es macht sie aber anfällig, einsam zu werden. Man darf auch nicht vergessen, dass es Menschen gibt, die gerne allein sind. 

Wann wird Einsamkeit problematisch?

Wenn man sich (zu) lange einsam fühlt, wenn man das Gefühl von Einsamkeit nicht selbst durchbrechen kann und wenn die Einsamkeit andere – mentale oder physische – Probleme verursacht. 

Wieso fällt es so schwer zu sagen, dass man einsam ist? 

Weil es in unserer Gesellschaft nicht gestattet ist, irgendeine Form von Schwäche zu zeigen – auch wenn Menschen in meinen Augen enorm stark sind, die Schwächen und Fehler zugeben können. Menschen haben Angst zu sagen, dass sie einsam sind, weil sie es dann sofort mit Vorurteilen zu tun bekommen. Wenn ich zum Beispiel über SAM rede, höre ich oft: „Ah, du machst Tinder für alte Leute“. Oder: „Eine App? Aber alte Leute nehmen so etwas doch gar nicht wahr“. Dabei hat eine Studie der Mental Health Foundation herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit, einsam zu werden, für 18 bis 34-Jährige höher ist als für Menschen jenseits der 55. 

Wieso ist dir dieses Thema so ein Anliegen?

Jeder fühlt sich mal einsam. Auch ich habe mich eine lange Zeit in meinem Leben einsam gefühlt. Ich kenne dieses Gefühl und weiß, wie beschissen es ist. Ich bin in einer kleinen Stadt in Bayern aufgewachsen. Im Gymnasium hatte ich große Schwierigkeiten, Freunde zu finden, besonders in der Kollegstufe. Jeden Tag sind alle Freundesgruppen in der Pause zusammen zum Bäcker gelaufen. Ich musste den Weg jahrelang alleine gehen. Das klingt vielleicht lächerlich, aber ich habe mich damals jeden Tag einsam gefühlt. Die Blicke der anderen vergisst man nicht so schnell. Ich war sehr froh, als ich endlich mein Abitur hatte und aus meiner sozialen Einzelzelle durfte. Ich dachte immer: „Mit mir stimmt etwas nicht, alle in der Schule haben Freunde, nur ich nicht“. Als ich dann in  Amsterdam ankam, merkte ich sehr schnell, dass ich überhaupt nicht das Problem war. Hier fand ich innerhalb von ein paar Wochen eine Handvoll Freunde, die ich heute noch regelmäßig sehe. Dafür bin ich jeden Tag dankbar. Genau wie Gesundheit sollte man Freunde und ein soziales Umfeld, in dem man sich geborgen fühlt, nicht als selbstverständlich betrachten. Seit ich SAM aufbaue, kommen immer mehr Menschen zu mir und erzählen mir, dass sie sich wahnsinnig einsam fühlen. Menschen, von denen ich es niemals erwartet hätte. Einsamkeit kann einfach uns alle erwischen – wie Schnupfen.

Wann hast du beschlossen, etwas gegen Einsamkeit zu unternehmen?

So richtig umzutreiben begonnen hat mich das Thema Einsamkeit, nachdem ich in einem Café einen Flyer gesehen habe, auf dem stand: 

„10 Prozent aller Amsterdamer sind einsam“. Vor meinem inneren Auge habe ich all diese Menschen auf einem einzigen Platz stehen sehen: 80.000 Einsame. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen wollte.
— Elena Köstler

Ich habe mich intensiv damit beschäftigt, was wirklich gegen Einsamkeit hilft und schnell herausgefunden, dass es am wichtigsten ist, eine konstante, zeit- und ortsunabhängige Lösung zu finden. Menschen haben nicht viel Lust, ab und zu mal an einem „Anti-Einsamkeits-Event“ teil zu nehmen. Sie wollen etwas tun können, was ihnen Spaß macht, egal wann und wo – mit Menschen, die sie nett finden. Kannst du dir vorstellen, dass in deiner unmittelbaren Umgebung heute Abend mindestens zehn Menschen nichts zu tun haben? Warum tut man sich da nicht zusammen?

Ihr arbeitet gerade an der Entwicklung einer App gegen Einsamkeit. Wie genau wird SAM funktionieren? 

Es gibt einen Satz von Prof. Dr. Theo van Tilburg, der mich sehr nachdenklich gemacht hat: „Wenn man einsame Menschen zusammen setzt, sind sie zusammen einsam“. Man darf nicht vergessen, dass Menschen oft Schwierigkeiten haben, in das soziale Leben zurückzufinden, weil ihnen entweder Ängste im Weg stehen oder weil sie vergessen haben, wie Kontaktaufnahme und „einfach mal Kaffee trinken“ funktionieren. Es reicht also nicht, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Man muss ihnen auch dabei helfen, ihre Erwartungen und Hoffnungen zu managen und ihre Kompetenzen zu üben. SAM möchte erstens das Tabu über Einsamkeit brechen, zweitens ein Bewusstsein für dieses Problem schaffen, drittens echte soziale Zusammenkünfte in kleinen persönlichen Gruppen ermöglichen, und viertens mit einem Guide soziale Ängste und Unsicherheiten aktiv bekämpfen. Und schließlich wollen wir auch eine Platform für andere kleine und große Initiativen und Projekte sein. Wir können dieses Problem nur gemeinsam angehen.

Wie soll dieser Guide gegen die Einsamkeit aussehen?

Es geht darum, soziale Fähigkeiten wieder zu erlernen. Das Zurückfinden ins soziale Leben nach einer lange Periode des Einsamseins ist oft sehr schwierig. Menschen denken oft: „Mit mir will keiner was zu tun haben, ich bin uninteressant und hab eh nichts zu erzählen”. Solche Gedanken führen in einen Teufelskreis, der den Ausbruch aus der Einsamkeit noch schwieriger macht. Das wollen wir mit unserem Guide verändern, den ich zusammen mit Wissenschaftlern und Einsamkeitsforschern entwickle. 

Was ich mich gefragt habe, als ich von eurer App gelesen habe: Müssen sich nicht sehr schnell sehr viele User anmelden, damit man eine realistische Chance hat, in seiner Umgebung jemanden zu finden, der sich gerade auch einsam fühlt? Schließlich ist ja jeder einsame Mensch auf seine eigene Weise einsam, und es reicht nicht, mit irgendeinem anderen Menschen Kontakt zu bekommen...

Das ist richtig. SAM wird bunter und schöner, je mehr SAMMER auf der Plattform sind. Aber wir sind nicht bloß eine Freizeit-App, die Menschen zusammenbringen will. Ehe man Kontakt aufnimmt, muss man erst einmal über seinen eigenen Schatten springen und sich trauen, Kontakt zu suchen. Dann muss man sich überlegen, was und mit wem man etwas unternehmen möchte. Erst dann tritt man in Aktion. SAM begleitet bei diesen Schritten und versucht sie zu erleichtern, indem soziale Hürden so klein wie möglich gemacht werden.

Wenn es so schwer ist, sich einzugestehen, dass man einsam ist,
ist es dann nicht auch ein schwieriger Schritt, sich auf einer Plattform gegen Einsamkeit anzumelden?

Die ganze Sache wäre leichter, wenn das Tabu über Einsamkeit schon gebrochen wäre. Daran arbeiten wir. Die Menschen müssen erfahren: 

1. Du bist nicht komisch oder psychisch krank, weil du dich einsam fühlst.

2. Wir ALLE können uns einsam fühlen.

3. Einsamkeit kann man überwinden und bekämpfen.

4. Wenn du es alleine nicht schaffst, ist es super, wenn du dir Hilfe suchst.

Ihr sucht gerade nach einer Finanzierung für eure App?

Genau. Die Crowdfunding-Kampagne für SAM läuft noch bis zum 7. Februar 2018. Wir würden uns wahnsinnig über eure Unterstützung freuen. Einfach auf diesen Link klicken. 

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Elena. Ich drücke euch die Daumen für eure Crowdfunding-Kampagne.

Was denkt ihr, wenn ihr von Elenas Plänen lest? Kann eine App gegen Einsamkeit helfen? Würdet ihr sie benutzen? Und fühlt ihr euch manchmal auch einsam?


Zum Weiterlesen:

* „Nie alleine, aber auch nie wirklich zusammen: warum so viele junge Menschen so einsam sind" in Nido.

„Brauchen wir einen Minister für Einsamkeit?": Psychologie-Professor Borwin Bandelow im Interview auf Deutschlandfunk Kultur.

Tabuthema Einsamkeit: Warum die Politik tatsächlich handeln muss": Der Stimmenfang-Podcast von Spiegel-Online spricht mit Betroffenen.

„Wie gefährlich ist Einsamkeit wirklich?" in der FAZ.

* „Modern life is lonely. We all need someone to help" im Guardian.

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