EIN KOCHBUCH, EIN REZEPT: RAGÙ ALLA BOLOGNESE
Ein paar Monate, ehe sie mit 89 Jahren nach einem langen erfüllten Leben in Florida stirbt, gibt Marcella Hazan ein Interview. Mark Bittman, damals noch Food-Autor bei der New York Times, hat sie und ihren Mann Victor besucht. Sie kochen zu dritt, Victor gießt das Pasta-Wasser ab, Marcella amüsiert sich darüber, dass so viele Menschen geglaubt hätten, bei der italienischen Küche ginge es um Gewürze („Sie haben mich immer gefragt, wo meine Gewürze sind, und ich sagte: hier ist das eine und dort drüben das andere”), zündet sich eine Zigarette an und erzählt von ihrem Endivien-Trick. Es ist ein perfekter Tag, zwei alte Menschen, die schon gebrechlich, aber immer noch energisch in der Zubereitung von Glück sind, und die einander unverbrüchlich lieben, man merkt das ja auch ohne große Bekenntnisse immer sofort.
Am Anfang des viel zu kurzen Videos, das es von diesem Besuch gibt, erinnert sich Marcella Hazan auch daran, wie sie von der Öffentlichkeit entdeckt worden ist. Das war im Oktober 1970, man kann das als Abonnent im Archiv der New York Times nachlesen. Ein Redakteur der Zeitung hatte die Hazans zum Lunch besucht, wohl durch die Kochkurse aufmerksam geworden, die sie zuerst in ihrer Wohnung, dann in ihrer eigenen Kochschule gab, und zu denen sie ursprünglich von den Frauen überredet worden war, mit denen sie zusammen einen chinesischen Kochkurs belegt hatte. In diesem Artikel von 1970 ist sie noch nicht berühmt, sondern eine Frau, die wahnsinnig gut kochen kann und ihre Familie versorgt. Victor, heißt es, komme jeden Tag zum Mittagessen nach Hause, und ihr Sohn Giuliano, der damals 12 ist, esse nicht in der Schulkantine, sondern bekomme von seiner Mama Lunchboxes mit „Kalbsragout, Ravioli, Hühnerbrust Siena-Style und so”. Noch etwas erfährt man aus dem Artikel, von dem sie am Ende ihres Lebens erwähnt, wieviel sie ihm zu verdanken hat: dass sie bis zum Tag ihrer Hochzeit nie gekocht hat, weil sie eigentlich gar keine Köchin ist, sondern eine studierte Naturwissenschaftlerin und Biologin. Zu kochen begonnen hat sie erst für Victor, der seine Heimat verloren hatte. Er war Jude, als er zehn war, emigrierte seine Familie ein paar Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Amerika. Bei seinem ersten Besuch im Land seiner Kindheit lernte er 1952 Marcella kennen und nahm sie mit nach New York. Sie liebte ihn so sehr, dass sie seine Sehnsucht nach dem italienischen Essen stillen wollte, das es damals in New York noch nicht gab.
So ging das los mit Marcella Hazan. 1969 eröffnete sie eine Kochschule und 1973, sie ist schon fast 50, erschien das Kochbuch, um das sie immer wieder gebeten wurde und das sie sich lange nicht zugetraut hatte, weil für ein Buch ihr Englisch nicht gut genug war – aber es gab Victor, der ihre Gedanken und ihre Rezepte für sie aufschrieb. „Die klassische italienische Küche” war die präzise, an Originalität, Innovation und Individualität nicht im geringsten interessierte Niederschrift einer Küche, die viele Menschen nicht zu Unrecht für die beste der Welt halten. Marcella Hazans Buch ist ein Archiv klassischer Gerichte, die jeder zu kennen glaubt (Minestrone zum Beispiel, Risotto oder Lasagne) – und doch oft durch ihre Rezepte zum allerersten Mal kennenlernt, weil sie mit ihrem Talent, sich an die Geschmäcker ihrer italienischen Kindheit zu erinnern, mit ihrem analytischen Vermögen und mit ihrem Ethos der Präzision (sie ist, wie gesagt, eine Naturwissenschaftlerin) so etwas wie die perfekte Version dieser Gerichte verewigt hat.
Deswegen gibt es „Die klassische italienische Küche” immer noch. Es ist schon 43 Jahre alt, aber nie ist jemand auf die Idee gekommen, es vom Markt zu nehmen oder aufzupeppen. Wozu auch? Es ist ja schon ein perfektes Buch, und wenn man wissen will, wie man italienisch kocht und italienisch isst, warum Olivenöl doch nicht so wichtig ist, wie man denkt (und wann aber doch unverzichtbar), oder wie man, ohne sich dabei groß anzustrengen, eine Tomatensauce machen kann, die manche Gäste mit einem Löffel direkt aus dem Topf essen, muss nur bei Marcella Hazan nachlesen.
Victors Sehnsucht nach italienischer Küche, ihre Bereitschaft, für ihn zu kochen, der Besuch eines Journalisten, der von ihren Kochkursen gehört hatte, ein Artikel, der ihr neue Schüler verschaffte, und ein Kochbuch, das Amerikanern vermittelte, wie glorios die authentische italienische Küche ist: all das macht sie zu einer Institution. Victor gab seinen Beruf im Pelzhandel auf, den sein Vater in New York gegründet hatte, und assistierte fortan seiner Frau. Zusammen eröffneten sie italienische Kochschulen in den USA und Italien, und für jedes ihrer Kochbücher ließ er sich von ihr die Rezepte diktieren (obwohl sie natürlich gut genug Englisch sprach, aber an den Gewohnheiten der Liebe soll man nichts ändern).
Wegen Marcella Hazan weiß nun auch ich, wie Tagliatelle alla Bolognese gemacht werden („Kurioserweise sind in Bologna Spaghetti alla bolognese unbekannt”). Nach Jahren, in denen ich schlechte, passable und gute Bolos gegessen habe. Für mich ist die von Marcella Hazan perfekt. Ein Gericht, das es schafft, satt, glücklich und friedlich zu machen – schon während sich die Küche über Stunden immer mehr mit diesem unfassbaren Duft füllt.
Hier ist das Rezept. Und hier sind Victors Nachruf auf seine Frau, eine Geschichte über sie im Guardian, ein Lobgesang auf ihr Kochbuch von Christian Seiler und ihre legendäre Tomatensauce.
RAGÙ ALLA BOLOGNESE (für 6 Portionen)
Zutaten:
* 1 EL Pflanzenöl
* 45g Butter
* 85g gehackte Zwiebel
* 3 Stangen Sellerie, gehackt
* 4 mittelgroße Karotten, gehackt
* 350g gehacktes durchwachsenes Rindfleisch
* frisch gemahlener Pfeffer
* frisch geriebene Muskatnuss
* 1/4 l Vollmilch
* 1/4 l trockener Weißwein
* 500g San Marzano Tomaten aus der Dose, klein geschnitten, mit dem Saft
* 550 bis 675g Pasta
* 1 EL Butter für die Pasta
* Parmigiano Reggiano zum Servieren
Zubereitung:
1) Das Öl, die Butter und die gehackte Zwiebel in einen Topf geben und auf Mittelhitze schalten. Die Zwiebel unter Umrühren glasig anschwitzen, dann den gehackten Sellerie und die Karotten hinzufügen. Etwa zwei Minuten garen, umrühren, damit das Gemüse gut mit Fett überzogen ist.
2) Das gehackte Rindfleisch, eine große Prise Salz und ein wenig Pfeffer dazugeben. Das Fleisch mit der Gabel zerkrümeln, sorgfältig umrühren und so lange garen, bis es nicht mehr roh und rot aussieht.
3) Die Milch hinzufügen und unter häufigem Umrühren so lange brodeln lassen, bis sie völlig verdampft ist. Eine winzige Prise, etwa 1/8 TL, Muskatnuss in den Topf reiben und umrühren.
4) Den Wein dazugießen und langsam verdampfen lassen, dann die Tomaten hinzufügen und alle Zutaten sorgfältig verrühren. Wenn die Tomaten zu brodeln beginnen, die Hitze verringern, sodass die Sauce sehr schwach kocht; es darf nur hin und wieder eine Blase an die Oberfläche steigen. Mindestens drei Stunden unter gelegentlichem Umrühren köcheln lassen. Die Sauce wird dabei trocken und das Fett trennt sich vom Fleisch. Damit sie nicht anbrennt, jedes Mal, wenn es nötig wird, 1/8 l Wasser hinzugeben. Zum Schluss darf jedoch kein Wasser mehr vorhanden sein, und das Fett muss sich von der Sauce trennen. Mit Salz abschmecken.
5) Die Sauce mit der gekochten, abgetropften Pasta vermischen, dabei die Butter hinzufügen. Frisch geriebenen Parmesan dazu servieren.
„Wenn Sie die Sauce nicht drei bis vier Stunden hintereinander überwachen können, schalten Sie die Hitze ab, wenn Sie die Küche verlassen müssen, und fahren später mit den Kochen fort. Hauptsache, Sie bereiten die Sauce an ein und demselben Tag zu.”
Marcella Hazan: „Die klassische italienische Küche”, 604 Seiten, Echzeit Verlag.